Das Internet hat uns vom reinen Rezipienten zum allzeit bereiten Medienunternehmer katapultiert. Wir veröffentlichen Texte, Fotos und Videos am laufenden Band und auf allen Kanälen: jederzeit, von überall und von jedem publizierbar und rezipierbar. Blogs, Social Networks, Video- und Foto-Portale, Podcasts, Foren: Unsere Möglichkeiten uns mitzuteilen und Leser, Seher und Hörer zu finden sind nun endlich unbegrenzt. Einerseits.
Nun schwimmen wir Bewohner der digitalisierten Industriestaaten jedoch im Informationsüberfluss: Jegliches Gedankengut ist sofort, hier und jetzt abrufbar. Es gilt jedoch, die wirklich für uns nährstoffreichen Fische im trüben wie vollen Teich zu finden. Wir können nicht einfach unser engmaschiges Netz auswerfen – beim Einholen würde dieses aufgrund der Menge an Fischen reißen. Unser Netz ist einfach nicht dafür erschaffen ganze Fischschwärme einzuholen. Angeln mit der Rute und dem entsprechenden Köder, um genau das zu holen, was wir wirklich brauchen – das heißt „be-nützen“.
Zahlreiche nordamerikanischen Unternehmen ersetzen bereits den Casual Friday durch den E-Mail-Free Friday. Unter dem Beantworten der täglich hunderten E-Mails leidet die Produktivität der Mitarbeiter derart, dass die Unternehmensgewinne zu schrumpfen drohen. „Time to get personal again“, schreiben die Seminaranbieter sogleich in ihren E-Mail-Newslettern.
In einer – von HP beauftragten – Studie zum Vergleich der Konzentration wurden Studenten der University of London in drei Gruppen geteilt: Eine durfte ungestört an einer Aufgabe arbeiten, die zweite wurde alle paar Minuten durch E-Mail und SMS in ihrer Aufmerksamkeit gestört und die dritte Gruppe ließ man Marihuana rauchen. Nicht verwunderlich, erreichte die erste Gruppe die höchste Punkteanzahl. Die durch Rauschgift benebelten Teilnehmer waren aber wesentlich konzentrierter und schnitten deutlich besser ab, als diejenigen, die ständiger Störung ausgesetzt waren. Daraus folgt: „Mind the crap“.
In der Arbeitswelt setzt sich die Erkenntnis durch, dass ständige Erreichbarkeit den massiven Verlust an Konzentration beinhaltet. Immer mehr Mitarbeiter dürfen ungestört im Home-Office arbeiten – ab und zu lässt man sogar das Notebook im Büro. So weit – so gut punkto Arbeit.
Es wird uns jedoch laufend an jeder Ecke des Netzes vermittelt, dass wir erst durch das Internet die Möglichkeit haben, mit unseren Freunden wirklich ständigen Kontakt zu halten. An jeder Ecke paaren sich Jahrmarktschreier der Eitelkeiten mit der Versuchung: Lade Freunde ein, kontaktiere sie, schick ihnen Fotos, einen Link, einen Feed, einen Event, einen Tweet zumindest, stupse sie an, stoße sie an, belästige sie.
Nur auf den ersten Blick scheint es paradox, dass bei all diesen unendlichen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme die Menschen zusehends vereinsamen. Denn Quantität steht bei Kommunikation in keiner Korrelation zur Qualität. Vereinsamung führt, zwar immer öfter, obwohl nicht immer zwangsläufig zu einem Amoklauf mit der Pumpgun, sie beraubt mich meist der Möglichkeit, direkte – und tiefergehende, als ein LOL 😉 – Erwiderungen meiner Mitmenschen auf mein Verhalten und meine Gedanken zu erleben. Der einzige Grund, menschliches Verhalten zu ändern, liegt in der Reflexion. In Worten und Taten reiben sich Aktion und Reaktion und so kann Katharsis als ein gemeinsames Kind dieses Aufeinandertreffens entspringen.
Es könnte also die Zeit gekommen sein, Facebook gegen Face to Face zu tauschen. Bei einer Tasse Tee zu zweit im Kaffeehaus, im Wald spazierend oder bei einem Glas Wein zu Hause vor dem Kamin.
Wenn wir unsere geballte Kommunikation an die Masse gegen das gute alte persönliche Treffen tauschen, ist das nicht immer bequem. Manchmal mühsamer, immer zeitaufwändiger und nicht messbar in einer Kontaktzahl, daher auch nicht wettbewerbsfähig – aber unübertroffen an Tiefe.
Das Leben ist kein großes Wellness-Hotel und auch kein Entertainment-Park. Den hedonistischen Erlebniseffekt muss ich bei so manchem Diskurs an den Nagel der Eingangstür hängen, dafür kann aber eine vorher nicht erahnte, oft nicht einmal erhoffte, Erweiterung meiner Gedanken daraus erwachsen. Die Reibung am Neuen, selbst und vor allem, wenn es um in Worte gefasste, mir noch unbekannte Gedanken geht, ist Grund meines Wachstums als Mensch.
Vor allem die der Situation angepasste Sprache trägt zur Tiefe bei, gibt es doch einen wesentlichen Unterschied, ob ich meine Gedanken in kleinen verzehrbaren Häppchen in die Welt hinausstelle oder in ganzen zusammenhängenden Sätzen. Wähle ich Sprachbrocken, die jedem verständlich sind, einige ich mich auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner, oder münze ich meine Worte auf den einzigen und alleinigen Adressaten meiner Gedanken. Direkte Kommunikation mit einem Menschen, sowohl in Inhalt als auch in Form. Mit und in Sprache formuliert, die sich nur an den beiden Teilnehmern orientieren und beschränken muss, deren kleinstes gemeinsames Teilbares nicht durch hunderte User herabgewürgt wird, sondern sogar manchmal über die eigene Grenze hinausgehen kann, weil Zeit, Raum und Geduld zur Erklärung vorhanden sind.
Richtige Tiefe wird nur möglich bei einer ganz und gar intimen Kommunikation. Wenn also einer zuhört, während der andere spricht. Wenn mir die Gedanken des anderen – selbst bei nicht sofortigem Verständnis des Gesagten – durch Frage und zeitnahe Antwort verständlich gemacht werden können. Wenn ich Sprache mit unmittelbarer Reaktion in Ton, Gestik und Mimik kombiniere, sie laufend im Kommunikationsprozess – ohne allein von der Technik erzwungene Pausen – anpasse und mich mit dem Gesagten meines Gegenübers nicht nur auseinandersetzen kann, sondern sogar muss.
Sollen wir also sofort jegliche E-Mails, IM-Chats und Twitter-Feeds abdrehen? Nein, nicht in gänzlichem Verzicht sollten wir uns üben, sondern in bewusstem „Be-nützen“: Zeit also, jetzt Facebook aufzurufen, einen Freund anzuklicken … und ihn zu treffen.
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